Die Reichspogromnacht 1938 in Bad Lippspringe
Klaus Karenfeld – 01.01.1995 – Lesezeit ~4 Minuten
Auch in Bad Lippspringe kam es im November 1938 zu „Aktionen“ im Sinne der Reichspogromnacht; Klaus Karenfeld hat diese örtlichen Geschehnisse
recherchiert und schreibt dazu:
„Nachdem von dem siebzehnjährigen deutschpolnischen Juden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 ein Attentat auf den deutschen Botschaftssekretär
Ernst vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris verübt worden war, gab die Gestapo auf Anweisung Goebbels den Befehl für eine organisierte Aktion,
die, kaschiert als „spontane Willensäußerung des deutschen Volkes“, gegen jüdische Geschäfte, Wohnhäuser und vor allem Synagogen durchgeführt werden
sollte. Im Verlauf der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 (der sog. Reichskristallnacht) wurden daraufhin in ganz Deutschland über 2000 Juden
ermordet, eine unbekannte Anzahl von Menschen misshandelt und verletzt, fast alle Synagogen sowie mehr als 7000 im Besitz deutscher Juden befindliche
Geschäfte im gesamten Gebiet des Deutschen Reiches zerstört oder beschädigt. Der tatsächliche Ablauf der nächtlichen Terroraktion in Bad Lippspringe
lässt sich nur schwer und unvollständig rekonstruieren. Eine sicherlich wertvolle Quelle wären die Akten des Schwurgerichtsprozesses vom 6. Juli 1949
gewesen, in dem sich elf Jahre nach der Reichspogromnacht sechs Bad Lippspringer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. Landfriedensbruch
verantworten mussten. Da die Angeklagten mangels Beweises freigesprochen wurden, sind die betreffenden Akten nicht beim Landgericht Paderborn
archiviert, sondern nach Ablauf einer fünfjährigen Aufbewahrungsfrist vernichtet worden. Die nachfolgende Darstellung über den Pogrom in der
Badestadt kann sich daher im wesentlichen nur auf die eingeschränkt detaillierte Prozessberichterstattung in der lokalen Presse vom Juli 1949
beziehen und einen anderthalbseitigen Brief von Bürgermeister Wilhelm Lange an den Paderborner Landrat vom 17. November 1938, in dem Lange zwar
ausführlich auf die während der Reichspogromnacht entstandenen Sachschäden und die von ihm eingeleiteten Polizeimaßnahmen eingeht, den tatsächlichen
Verlauf der nächtlichen Terroraktion und die dafür Verantwortlichen aber verschweigt. Diesem nur bedingt aussagefähigen Quellenmaterial zufolge wurde
am Abend des 9. November 1938 auch in Bad Lippspringe im Rahmen einer Parteifeier der Jahrestag des (fehlgeschlagenen) Novemberputsches von 1923
begangen. Dazu hatte die örtliche Parteileitung ihre Mitglieder für 20 Uhr in den Kursaal eingeladen. Während der Feierstunde traf die Nachricht ein,
dass der deutsche Legationsrat vom Rath in Paris verstorben sei. Im Schwurgerichtsprozess von 1949 sagten Zeugen aus, dass der Ortsgruppenleiter
daraufhin vor den anwesenden Parteimitgliedern eine „Aktion gegen die örtlichen Juden“ verlangt habe. Da die Bad Lippspringer Synagoge schon vor 1930
aus baulichen Gründen abgerissen worden war und die beiden Geschäfte der Familien Lorch und Meyer zu diesem Zeitpunkt bereits „arische“ Besitzer
hatten, richtete sich der nächtliche Terror zunächst gegen die Häuser und Wohnungen der Bad Lippspringer Juden, dann aber auch gegen ihre Bewohner
selbst. In der Zeit zwischen 24 und 1 Uhr zogen zehn bis zwölf uniformierte SA- und SS-Männer vor die betreffenden Häuser, warfen Fensterscheiben ein
und zwangen die Bewohner u. a. mit gezogener Pistole, ihnen zu folgen. Das Ziel war das Parteilokal Peters in der Detmolder Straße. Dort wurden im
Laufe der folgenden Stunden etwa zehn jüdische Männer zusammengetrieben. Unter Drohungen und Schlägen hielten Ihnen die SA- und SS-Männer die
„Verwerflichkeit der Tat des Juden Grynszpan“ vor. Dem Schwerbehinderten Hermann Levy wurde ein Brief an den französischen Ministerpräsidenten
diktiert, der darin aufgefordert wurde, künftig einen besseren Schutz der deutschen Diplomaten in Frankreich zu gewährleisten, andernfalls müssten
die „kleinen Juden“ in Deutschland die Konsequenzen tragen. Nach etwa einer Stunde, die die zehn Männer mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand
im Parteilokal verbringen mussten, wurden sie durch den Kurpark zur Lippequelle getrieben. Auf das Kommando der Bewacher hin – „Die Juden ins Wasser,
marsch!“ - sprangen sie unter Schlägen hinein. Wer versuchte, aus der nur wenige Grad warmen Quelle herauszusteigen, wurde mit dem Kopf
untergetaucht. Erst in den frühen Morgenstunden durften die zehn Männer in ihre Wohnungen zurückkehren. Am nächsten Tag erklärten die beteiligten SA-
und SS-Männer die nächtlichen „Ereignisse“ zynisch damit, dass die Juden „getauft“ worden seien. In der Nacht zum 11. November 1938 wurde der 72
Jahre alte Viehhändler Adolph Rudolphi von Unbekannten überfallen und misshandelt, weil er angeblich Handel mit den Bad Limspringer Juden getrieben
hatte. Der überwiegende Teil der Bad Lippspringer Bevölkerung habe die nächtliche „Aktion gegen die Juden nicht verstanden und mit dem Hinweis
verurteilt, dass derartiges in einem Kulturstaate nicht vorkommen dürfe“, urteilte Bürgermeister Wilhelm Lange in dem Brief an den Paderborner
Landrat vom 17. November 1938. Die entstandenen Sachschäden bezeichnete er als nur gering: *„Größere Schäden sind bei der Durchführung der
Judenaktion hier nicht entstanden. Es sind insbesondere keine Räume verbrannt oder deren Einrichtungen zerstört oder beschädigt worden. Lediglich an
folgenden Wohnungen sind einige Fensterscheiben eingeworfen worden, und zwar:
- an der Wohnung des Juden Max Meyer, Ludendorffstr. 16, eine Fensterscheibe
- an der Wohnung der Jüdin Ww. Lorch, Ludendorffstr. 8, sieben kleinere und eine größere Fensterscheibe. Letztere wurde in der Nacht nach der
Judenaktion durch Steinwürfe zertrümmert.
Der Gesamtschaden dürfte sich auf ca. 70 RM belaufen…“*