Erinnerungen an jüdisches Leben in Bad Lippspringe

Joachim Hanewinkel – 06.03.2016 – Lesezeit ~6 Minuten

Das schmucke Tuch liegt auf dem Tisch. Augenscheinlich handelt es sich um eine gewöhnliche Damast-Tischdecke; jedoch ist es eine besondere Geschichte, die mit diesem Stück Stoff verbunden ist. Die dekorative Tischdecke ist mehr als 70 Jahre alt und stammt aus dem Kaufhaus der jüdischen Familie Meyer (Lange Straße 6). Die Schwestern Meta und Paula Meyer waren befreundet mit Gertrud Niggemeier.

Ab 1933 wurde das Leben für jüdische Familien zunehmend schwieriger und mit den Repressionen des nationalsozialistischen Regimes unmenschlich und unerträglich. Es fehlte zumeist an Geld und Lebensmitteln, so auch bei Familie Meyer. Gertrud Niggemeier ging nachts zu Meyers und brachte ihnen Nahrungsmittel, obwohl dies bekanntlich sehr riskant war. Aus Dankbarkeit gab Meta Meyer ihrer Freundin Gertrud die besagte Damast-Tischdecke. Dieses Tischtuch wurde im Hause Niggemeier zu allen Festtagen aufgelegt. Es befindet sich noch heute in Bad Lippspringe im Besitz der Familie Böning/Wieners.

Biografische Daten

  • Gertrud Niggemeier (geb. Hesse), geboren 12.10.1888; gestorben 02.04.1961 in Bad Lippspringe.
  • Meta Meyer, geboren 29.12.1888 in Bad Lippspringe; ermordet 1942 in Auschwitz.
  • Paula Meyer, geboren 29.09.1885; verheiratet mit dem Musiker Rudolf Naumann. Rudolf Naumann war evangelischer Christ, seine Frau Paula war Jüdin. Ihre Kinder: Margarete, geboren 23.11.1920, und Elfried Naumann, geboren 17.02.1925, gestorben 29.06.2012.
  • Clara Meyer, geboren 05.01.1882; ermordet 1942 in Auschwitz (verheiratet mit dem Kaufmann Albert Lorch, geboren 11.02.1882; gestorben 08.10.1934 im St. Josefskrankenhaus in Bad Lippspringe infolge eines Verkehrsunfalls).
  • Therese Meyer (geb. Goldmann), geboren 06.07.1853; gestorben 14.01.1939; Mutter von Clara, Paula und Meta.
  • Israel Meyer, geboren 11.01.1851; gestorben 18.01.1921; Vater von Clara, Paula und Meta. Kaufmann von Beruf (Kaufhaus Meyer, Lange Straße 6).

Die Chronik der Stadt Bad Lippspringe enthält vergleichsweise spärliche Hinweise auf jüdisches Leben; ausgewählte Eintragungen sollen an dieser Stelle zitiert werden. So findet sich für das Jahr 1907 folgender Hinweis: „Die jüdische Gemeinde gibt ihr Gebetshaus zwischen Arminius- und Jordanpark auf.“ Für das Jahr 1933 ist die folgende Notiz vermerkt: „Die Nationalsozialisten rufen am 1. April zum reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte auf. Vor dem Kolonialwarengeschäft Max Meyer und dem Konfektionsgeschäft Albert Lorch ziehen SA-Posten auf und fordern die Kunden auf, nicht mehr bei den beiden jüdischen Geschäftsleuten zu kaufen.“

Ein Jahr später wird vermerkt: „Der Boykott jüdischer Geschäfte hat erste Folgen: Im Februar 1934 gibt Max Meyer sein Kolonialwarengeschäft auf.“ Eine weitere Notiz 1934: „Der jüdische Kunstmaler und Grafiker Walter Levy wird mit einem Berufsverbot belegt. Er reist zwei Jahre später nach Brasilien aus. Albert Lorch, jüdischer Inhaber eines Textilgeschäftes, kommt im Sommer (1934) bei einem Verkehrsunfall in Bad Lippspringe ums Leben. Seinen ehemaligen Vereinsfreunden verbietet der damalige Vorsitzende des BVL, Dr. Hugo Aldegarmann, an der Beerdigung teilzunehmen.“

Chronik-Eintragung 1938: „In der berüchtigten Reichskristallnacht vom 9. Zum 10. November (1938) werden auch die Männer der Lippspringer Familien Lorch, Meyer und Abraham misshandelt: Nach allerlei Schikanen müssen die Bürger jüdischen Glaubens in die eiskalte Lippequelle springen. Der 72 Jahre alte Viehhändler Adolph Rudolphi wird in der Nacht zum 11. November von Unbekannten überfallen und misshandelt, weil er angeblich Handel mit den Bad Lippspringer Juden betrieben hatte.“ Eintragung 1939: „Werner und Helmut Lorch, 18 und 20 Jahre alt, die bereits einen Tag nach der Reichspogromnacht Bad Lippspringe verlassen hatten und zu ihrer Schwester nach Hamburg gezogen waren, verlassen am 1. Februar (1939) auch die Hansestadt. Sie wandern nach China aus.“

Chronik-Eintragung 1941: „Walter Meyer, Sohn der aus Bad Lippspringe stammenden jüdischen Familie Max und Emilie Meyer, wird am 26. August (1941) erschossen. Walter Meyer war bereits 1939 in die Niederlande emigriert, wurde nach der Besetzung durch die deutschen Truppen im Juni 1941 ins Konzentrationslager Mauthausen verschleppt. Nachdem hier mehrere medizinische Experimente an ihm vorgenommen worden waren, versuchte er zu fliehen. Am 10. Dezember (1941) werden Max und Emilie Meyer sowie ihr Sohn Siegfried in die Nähe von Riga (Lettland) deportiert. Max Meyer ist seitdem verschollen, Emilie Meyer wird am 28. März 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht und gilt seitdem ebenfalls als verschollen. Das Amtsgericht Paderborn erklärt beide am 3. Oktober 1951 für tot. Siegfried Meyer überlebt noch die Konzentrationslager Stutthof, Buchenwald und Dachau. Er stirbt nach der Befreiung schwerkrank am 18. Mai 1945.“

Chronik-Eintragung 1942: „Die zweite Deportation Bad Lippspringer Juden erfolgt am 8. Juli (1942). Zu den Opfern dieses Zuges gehören die Geschwister Meta Meyer und Clara Lorch. Die beiden werden im Vernichtungslager Auschwitz vergast. Am 28. Juli (1942) werden weitere fünf Bad Lippspringer Juden deportiert: Hermann und Else Abrahams mit Tochter Margot und das Ehepaar Hermann u. Betty Levy. Sie werden erst nach Theresienstadt transportiert, am 16. Oktober 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht und dort ermordet. Josef Abrahams war bereits 1939 in die Niederlande emigriert. Der Sohn von Hermann und Else Abrahams arbeitete bis zur deutschen Besetzung bei den Philipps-Werken in Eindhoven. Nach seiner Verhaftung wurde der 20-jährige nach Mauthausen deportiert und starb dort am 28. September 1941. Im Protokollbuch der Gemeinderatssitzung vom 28. Juli (1942) findet sich der einzige Eintrag zur Deportation der Bad Lippspringer Juden: Den Gemeinderäten wird mitgeteilt, dass die Stadt Bad Lippspringe mit dem heutigen Tage, außer der Jüdin Naumann, keine weiteren Juden mehr habe. Paula Naumann, mit dem nichtjüdischen Kaufmann Rudolf Naumann verheiratet, bleibt auch von den folgenden Deportationen ausgenommen und überlebt die Zeit der Verfolgung.“

In der Nachbargemeinde Schlangen ist im April 2016 ein Denkmal zur Erinnerung an die ehemalige Synagoge errichtet worden. Damit hat das jüdische Leben vergangener Tage in Schlangen jetzt einen würdigen Gedächtnisort erhalten. Aus der zugehörigen Informationstafel geht hervor, dass um das Jahr 1867 in Schlangen 21 Juden und weitere 5 in Haustenbeck lebten. „Die jüdische Gemeinde in Schlangen besteht aus 6 Haushalten: B. Meier, M. Meier, A. Grünewald, M. Grünewald. Aus Haustenbeck kommen die Einwohner Kuhlemeier und Borgzinner hinzu. Zeitweise besuchen auch Juden aus Lippspringe regelmäßig den Gottesdienst in Schlangen.“ (zitiert aus dem Text der Informationstafel). Der Heimatverein Bad Lippspringe hat die Errichtung dieses Denkmals finanziell unterstützt.

Erwähnenswert ist das folgende denkwürdige Datum: Vor 78 Jahren verschärfte sich die Situation für Menschen jüdischen Glaubens. Am 01.09.1941 wurde in Deutschland die Kennzeichnungspflicht für Juden erlassen. Die „Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden“ wurde im Reichsgesetzblatt verkündet. Ohne einen sogenannten „Judenstern“ auf der Kleidung durften sie sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen. Die beispiellose Verfolgung der Juden kommentiert eine Auschwitz-Überlebende mit folgenden Worten: „Das war das größte Verbrechen, was es in der Welt jemals gab“ (Esther Bejarano rückblickend im Tagesschau-Interview, Quelle: tagesschau.de, 01.09.2016)

In Bad Lippspringe gab es über lange Zeit auch jüdisches Leben, eine Synagoge, einen jüdischen Friedhof. Es ist nach wie vor wichtig, die Geschichte der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger weiter aufzuarbeiten und somit die Erinnerung stets wachzuhalten.