Brief von Werner Lorch

Brief von Werner Lorch

16.06.2020 – Lesezeit ~7 Minuten

In Bad Lippspringe mussten jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in den Jahren 1933 bis 1945 Ausgrenzung, Verfolgung und Entwürdigung erleiden. Im Rahmen seiner Examensarbeit hat Christian Starre das Schicksal der Juden in Bad Lippspringe und Schlangen während der Zeit des Dritten Reiches erforscht und gründlich aufgearbeitet. Neben zahlreichen Gesprächen mit Zeitzeugen konnte Christian Starre auch wichtige briefliche Kontakte herstellen. Auf diese Weise ist es ihm gelungen, zusätzliche Erkenntnisse und Informationen zusammenzutragen. Beispielhaft soll im Folgenden der ausführliche und bewegende Brief von Werner Lorch (New York) an Christian Starre aus dem Jahr 1977 wiedergegeben werden:

Werter Herr Starre,

von meiner Schwester, Frau Lotte Magnus, erhielt ich, so wie auch mein Bruder in Miami Florida, einen Brief sowie Durchschriften von einem Brief und einen Fragebogen, den Sie an meine Schwester gesandt haben. Auch lag dem Brief die Antwort meiner Schwester an Sie bei. Seit dem Erhalt habe ich mir lange überlegt, ob ich Ihnen überhaupt antworten sollte, denn erstens kennen wir Sie nicht und zweitens bringen diese Aufführungen Erinnerungen zurück, die wir lieber vergessen würden. Nur die Tatsache, dass Frau Orth sich für Sie eingesetzt hat, hat mich veranlasst diesen Brief zu schreiben und ich hoffe, dass Sie meine Einstellung verstehen können. Außerdem ist es ja auch bekannt, dass das, was wir als Juden mitgemacht haben noch bis zu diesem Tage in vielen deutschen, christlichen Kreisen als eine Lüge bezeichnet wird und möchte ich darauf hinweisen, dass in den Nachkriegsjahren in Gerichtsverhandlungen, wo es sich um Nazis gegen Juden handelte, die Nazis zu 85 % Recht bekamen, und wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Ich möchte darauf hinweisen, dass in diesem Bericht nur ein kleiner Prozentsatz der aktuellen Ereignisse aufgeführt sind und sich fast ausschließlich auf Bad Lippspringe beziehen. Auch habe ich seit letzter Woche einige Male mit meinem Bruder gesprochen und da er Ihnen nur dieselben Sachen und Berichte geben könnte, wird er Ihnen nicht antworten.

Ich bin in Lippspringe zur Volksschule gegangen und dann zur Oberrealschule in Paderborn, die ich 1932 verließ. Ich war von 1932-1935 zuerst als Lehrling und dann als Verkäufer bei der Firma M. Löwenstein in Korbach, Waldeck. In diesen drei Jahren bin ich nur zu einigen Feiertagen und Ferien nach Lippspringe gegangen und kann ich Ihnen sagen, dass nach der Machtübernahme diese Besuche keine erfreulichen mehr waren. Plötzlich haben Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, zur Schule gegangen bin und mit denen ich einer Jugendmannschaft des Fußballvereins angehörte und gespielt habe, mich nicht mehr gekannt.

Unsere Familie hatte ein Geschäft in dem Haus Langestraße 6 und war dieses Geschäft Jahrhunderte im Besitz unserer Familie. Ich glaube nicht, dass unsere Kunden jemals Grund hatten sich über die Führung des Geschäftes zu beklagen und ich kann offen und ehrlich sagen, dass in den letzten Jahren, in denen unsere Familie das Geschäft betrieb, wir durch unsere bekannten Gutmütigkeit von unseren Kunden ausgenutzt wurden und wir auch in diesem Falle der leidende Teil waren. Der Umsatz wurde nach 1933 kleiner und kleiner und nur der feste Glaube, dass so etwas nicht andauern kann, veranlasste meine Eltern das Geschäft weiter zu führen.

Im Jahre 1936 war es mir möglich eine Stelle als Verkäufer bei der Firma Bielefelder Kaufhaus in Rathenow bei Berlin zu bekommen und blieb ich dort bis September 1938. Auch diesen Posten verlor ich durch die Zeitverhältnisse. In der Zwischenzeit hatte meine Mutter das Geschäft verkauft, oder besser gesagt war gezwungen es ab-und aufzugeben und möchte ich hier eine wichtige Bemerkung machen. In dem Glauben, dass die zur Zeit bestehende Verfolgung der Juden und die damit zusammenhängende Geschäftslage nicht anhalten würden, hatten meine Mutter und ihre Schwester, die zusammen das Geschäft leiteten, alle Ersparnisse in das Geschäft gesteckt, um es in der Familie und offen halten zu können, so wenn es ausschließlich zur Abgabe kam wir ohne jeden Pfennig dastanden. Um finanziell zu helfen, nahm ich eine Arbeit bei einem Bauunternehmer in Neuenbeken als Hilfsarbeiter an. Wir waren dort fünf jüdische Jungen und war der Unternehmer mit unserer Arbeit sehr zufrieden. Am 9. November entließ er uns und gab uns keine Auskunft warum. Das bringt mich nun zu den Ereignissen der Kristallnacht.

Mein Bruder hatte auch in der Zwischenzeit seinen Arbeitsplatz als Dekorateur in Thüringen verloren und war zu Hause. In der Nacht warf man Steine in das Schlafzimmer meiner Großmutter und später wurden wir durch laute Stimmen im Hause geweckt und als wir die Tür unseres Schlafzimmers öffneten, standen draußen Dr. Aldegarmann, mit gezogener Pistole und ungefähr 10 bis 12 uniformierte Männer, die meisten waren uns bekannt. Wir mussten uns anziehen und wurden dann zum Hotel Peters marschiert. Ein SS-Mann versuchte meinen Bruder über die Brücke in den Jordan zu schmeißen, doch gelang es ihm nicht. Im Hotel Peters waren noch acht oder neun jüdische Männer, als wir dort ankamen. Wir mussten mit dem Gesicht gegen die Wand stehen und wurden getreten und geschlagen. Dann führte man uns in den Kurpark und befahl uns in die Lippequelle zu springen. Einige der älteren Männer wurden reingeworfen. Es gelang meinem Bruder und mir, einen älteren Mann (Hecht, aus Salzkotten) der zur Zeit bei unserem Onkel Max Meyer wohnte, vor dem ertrinken zu retten, da er in seiner Aufregung zu weit in die Mitte der Quelle ging. Nachdem man uns befahl heraus zu kommen, schlug und trat man uns wieder. Auf dem Weg nach Hause wurde ich von einem SS-Mann verfolgt, doch gelang es mir zu entkommen. Ich betone nochmals, dass ich mit einer Ausnahme keine Namen genannt habe, obgleich das sehr leicht gewesen wäre. Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen möchte ich Sie davon bin mitteilen, dass ein Bruder des Max Meyer, Paul, der nach Amerika ausgewandert war, ohne unser Wissen und gegen unseren Willen Anzeige gegen Dr. Aldegarmann und die anderen Nazis beim Schwurgericht in Paderborn einreichte. Die Verhandlung war im Jahre 1949 vor dem Gericht in Paderborn und haben das Volksecho und der Volkskurier zur Zeitdarüber berichtet. Mein Bruder und ich haben eidesstattliche Erklärungen mit Namen gegeben die mit dem, was ich Ihnen hier schreibe fast 100 % übereinstimmen. Das Urteil, Freispruch natürlich, und ist es uns nicht schwer gefallen, daraus zu entnehmen, dass man Nazis mehr glaubte als Juden.

Da wir in der Nacht überhaupt keine Ahnung hatten, was sich in Deutschland abgespielt hatte, fuhren wir am Morgen, um sicher zu sein, zu unserer Schwester nach Hamburg. Dort wurde mein Bruder verhaftet und nur, als wir eine Reisekarte nach Shanghai vorwiesen, wurde er entlassen.

Wir verließen Deutschland im Frühjahr 1939 nach Shanghai, wo wir bis 1947 blieben und dann über Indien nach Amerika einreisten. Über den Abtransport der Juden aus Lippspringe, unter denen auch unsere Mutter und Tante waren, kann ich Ihnen nichts berichten. Ich möchte aber hier erwähnen, dass unser (in der Zwischenzeit verstorbene) Onkel Rudolf Naumann sich in heroischer Art für unsere Mutter und Tante einsetzte, aber ohne Erfolg. Über das Schicksal von Walter und Siegfried Meyer kann ich nur sagen, dass beide einen grausamen Tod im KZ erlitten. Auch kann ich Ihnen über Vorgänge in Schlangen und Marienloh nichts berichten. Auch kann ich mich nicht erinnern, dass in Marienloh jemals Juden gewohnt haben.

Im großen Ganzen endet mein Bericht. Sollten Sie irgendwelche Fragen haben, bin ich gerne bereit Ihnen zu antworten. Sollten Sie mir schreiben, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilen könnten, was unsere früheren christlichen Freunde oder Mitbürger über uns gedacht haben. Ich weiß natürlich, dass niemand etwas von diesen jüdischen Märchen gewusst hat und vielleicht hat man ihnen doch etwas anderes erzählt als das, was wir so im Laufe der Jahre gehört haben. Ich hoffe, dass diese Ausführungen Ihnen eine Hilfe in Ihrer Examensarbeit sind und um ehrlich zu sein, muss ich Sie bewundern, solch ein Thema auch nur anzufassen, denn es ist ja kein Geheimnis, dass man von der Vergangenheit nicht gerne in Deutschland spricht.

I wish you well,
Respectfully,
Werner Lorch

Die Geschwister Werner, Lotte und Helmut Lorch hatten ihre Kindheit und Jugend in Bad Lippspringe erlebt, sie wohnten damals im elterlichen Haus Lange Straße 6. Sie mussten wie so viele Menschen unter dem NS-Verfolgungsapparat leiden. Im Jahr 1939 gelang ihnen die Flucht aus Deutschland. Werner Lorch hatte schließlich eine neue Heimat in den USA gefunden.