Brief von Lotte Magnus
12.02.2022 – Lesezeit ~5 Minuten
Im Rahmen seiner Examensarbeit hat Christian Starre das Schicksal der Juden in Bad Lippspringe und Schlangen während der Zeit des Dritten Reiches erforscht und gründlich aufgearbeitet, was auch den Briefverkehr mit Zeitzeugen einschloss.
Neben dem Antwortbrief von Werner Lorch erhielt er im Jahr 1977 auch einen Brief von Lotte Magnus aus Rapperswil (Schweiz):
Sehr geehrter Herr Starre,
es tut mir leid, dass ich Sie so lange mit meiner Antwort warten liess. Eigentlich bin ich nicht die richtige Person, Ihnen Auskunft zu geben, da ich Lippspringe noch 1933 verliess, und nur dann und wann zu Besuch dort weilte. Aber Kopien Ihres Fragebogens und Ihres Briefes vom 22.1.1977 gehen an meine beiden Brüder, die Ihnen vielleicht sehr ausführlich schreiben werden. Falls nicht, und hier muss ich Ihnen doch zu verstehen geben, wie schrecklich es immer noch ist und wie fast unbegreiflich, dass geschehen konnte, was geschehen ist, dann schreiben Sie mir noch einmal, und ich werde Einzelheiten, die mir von meinen Brüdern und Verwanten erzählt wurden, berichten.
a) trotz wir seit Generationen in Lippspringe lebten, war und immer bewusst, dass wir von den christlichen Mitbewohnern nicht völlig als gleichberechtigt anerkannt wurden. Wir wurden als Kinder sehr strikt erzogen, und es wurde und immer wieder eingeschärft, uns besonders unauffällig zu benehmen, um ja nicht aufzufallen, da es sonst geheissen hätte, natürlich, die Juden.
b) In der Kristallnacht lebte ich mit meinem Mann und Kind in Hamburg, wohin meine Brüder flüchteten, nachdem man sie in Lippspringe so furchtbar behandelt hatte, und sie um ihr Leben bangten.
c) Meine Mutter und ihre Schwester, sowie Familien Max Meyer und Abraham wurde abtransportiert und ermordet. Meine Mutter und ihre Schwester wurden in Auschwitz vergast.
d) Ein Sohn von Max Meyer starb im K.Z. nachdem man an ihm verschiedenste medizinische Experimente vorgenommen hatte. Der andere wurde auch umgebracht.
e) In Schlangen lebte wohl noch eine Familie Levy, die Sie sicher kennen, und eine andere Familie Meyer lebt in New York.
f) Massnahmen gegen jüdische Mitbürger!! Mein Vater war ein begeisterter Skat- und Kegelspieler, und ausserdem im Vorstand des Lippspringer
Fussballvereins. Er nahm an allen Sitzungen und Veranstaltungen teil, aber nachdem Hitler an die Macht kam, verbot man ihm jegliche Beteiligung und
er durchte nicht mehr zu den Skat-und Kegelabenden kommen, und wurde dadurch völlig vereinsamt und verbittert. Er konnte diese Isolierung einfach
nicht verstehen und verkraften. Sicherlich führte dieses auch zu seinem vorzeitigen Tod. Er fuhr jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Post in der
Detmolder Strasse, um unsere Briefe dort abzuholen. Dieses tat er seit vielen Jahren regelmäassig. Im Sommer 1934 fuhr er, mit seinen Sorgen
belastet, wie gewöhnlich zur Post, und als er auf der Detmolder Strasse war, bemerkte er die herannahende Strassenbahn nicht, kam durch sie zu Fall
und wurde so schwer verletzt, dass er nach 4 Tagen im Krankenhaus starb. Er wurde, wie es damals Brauch war, bei uns zu Haus aufgebahrt und seine
früheren Fussball-Freunde wollten ihn aus dem Haus auf den Leichenwagen tragen. Aber am Abend vor dem Begräbnis rief sein sogenannter “bester Freund”
Dr. Aldegarmann, der im Vorsitz des Fussballvereins war, alle Mitglieder zusammen und befahl ihnen, dieses nicht zu tun und auch nicht zu Beerdigung
zu gehen, da sie sonst ihre Mitgliedschaft im Verein und in der Partei verlieren würden. Und, wahrlich, sie kamen nicht! Im Jahre 1939 starb meine
Grossmutter, Frau Therese Meyer. Kurch vor ihrem Tod musste sie noch erleben, dass man grosse Steine in die Fenster unserer Wohnung warf. Der
Leichenwagen fuhr so schnell zum Friedhof, wahrscheinlich aus Angst vor Anpöbelungen der Bevölkerung, dass die Familie kaum folgen konnte.
Im Jahre 1937 heiratete ich auf dem Lippspringer Standesamt. Der Beamte, der jahrelang unser nächster Nachbar war, wagte es nicht, mir zu
gratulieren. Die kirchliche Trauung fand in Paderborn statt. Wir hatten mit einem Fuhrunternehmen vereinbart, uns 2 Taxis zu schicken, um uns von
Lippspringe nach Paderborn zu bringen. Am Morgen der Trauung wurden wir telefonisch benachrichtigt, dass die Wagen nicht kommen würden.
Wir hatten unser Haus und Geschäft seit vielen Generationen in Lippspringe. Aber seit dem Jahre 1933 kamen immer weniger Kunden zu uns, da sie
Angst hatten, in einen jüdischen Laden zu gehen, oder aber sie waren Mitglieder der NSDAP geworden, wollten nichts mehr mit Juden zu tun haben und
hielten andere ab, unseren Laden zu betreten.
Eine Schwester meiner Mutter war mit einem Christen verheiratet, Rudolf Naumann, der später Dirigent des Lippspringer Gesangvereins wurde. Sogar dieses Ehrenamt wurde ihm genommen, da er jüdisch versippt war. Er und seine Frau hatten auch ein Geschäft, welches aber auch aus den gleichen Gründen einging. Er bemühte sich dann, irgendwelche Arbeit zu finden, was ihm auch oft gelang, da er sehr geschickt war und äusserst beliebt. Aber nach ein paar Wochen Arbeit wurde ihm immer wieder gekündigt, meistens mit der Bemerkung, dass man ihn sofort wieder einstellen würde, wenn er sich scheiden lassen würde. Aber er war ein ganzer Mann, blieb bei seiner Frau und rettete dadurch und seinen Kindern das Leben. Er war ein sehr methodischer Mann und hatte einen Ordner mit den verschiedenen amtlichen Briefen, in denen ihm eben nahegelegt wurde, sich scheiden zu lassen. Diese Briefe habe ich selbst bei meinen Besuchen in Lippspringe, nachdem der Krieg zu Ende war, gelesen.
Verhältnis anderer Mitbürger zu uns? Ich hatte eine Lehrerin, mit der ich viele Jahre gut bekannt war, und der ich fot die Bücher nach Haus tragen durfte. Aber seit 1933 grüsste sie mich nicht wieder, wenn ich ihr einen guten Tag sagte. Auch besuchte ich regelmässig eine chronisch Kranke im Krankenhaus in Lippspringe. Sie war ganz allein und bekam nie Besuch. Eines Tages forderte sie mich auf, nie wieder zu kommen.
So wurden wir, beinahe über Nacht, zu Fremdkörpern in unserer Heimat, in der wir geboren waren und aufwuchsen mit Mesnchen, die wir als Freunde betrachteten und die doch keine waren. Man mied uns, niemand kam zu uns und niemand sprach zu uns, bis eines Tages die Gestapo kam, um meine Mutter und meine Tante zu holen, um sie zu vergessen.
Sehr geehrter Herr Starre, dieser Brief ist mir sehr schwer gefallen. Er wird Ihnen kaum helfen, da ich die Ungeheuerlichkeiten dieser Zeit
einfach nicht beschreiben kann. Dazu gehört ein Schriftsteller.
Ich wünsche Ihnen Glück zu ihrer Examensarbeit.
Mit freundlichem Gruss
Lotte Magnus